Silver Crown - Forbidden Royals (German Edition) Read online

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  Zum ersten Mal in meinem Leben verfluche ich mich dafür, dass ich mich regelrecht dazu gezwungen habe, alles, was mit der Monarchie zusammenhängt, auszublenden. So habe ich die einschlägigen Nachrichtensender gemieden, nicht auf die Titelseiten der Klatschzeitschriften geschaut und in meinem ersten Jahr auf dem College auch sämtliches Getratsche mit den Mädels aus meinem Wohnheim über den feschen Prinzen ausgeblendet. Ich habe mir immer eingeredet, dass ich kein Interesse daran habe, meine Gehirnzellen an ein so frivoles Thema zu verschwenden, aber die Wahrheit ist … dass es zu schmerzhaft war, eine Außenseiterin zu sein, die draußen vor der Scheibe steht und nach drinnen auf das Leben schaut, das sie beinahe gehabt hätte. Auf die Familie, zu der sie nie gehören wird.

  Und doch …

  Bin ich jetzt hier. Und ich stehe kurz davor, diese Scheibe zu zertrümmern und hineinzutreten.

  Ich schaue wieder zu dem Fremden. Ich öffne den Mund, um ihm eine Frage zu stellen, klappe ihn aber wieder zu, bevor auch nur ein einziges Wort entweichen kann. Nach unserem heftigen Tête-à-Tête auf dem Rücksitz des Autos bin ich mir nicht sicher, ob wir überhaupt noch miteinander sprechen.

  Er atmet geräuschvoll aus. »Um Himmels willen, frag mich einfach.«

  Ich blinzle erschrocken. »Was? «

  Er schaut zu mir hinunter, als wäre ich die größte Nervensäge, die es je gewagt hat, ihm die Luft wegzuatmen. Er hat die dunklen Augenbrauen zu einer finsteren Miene zusammengezogen, was ihn irgendwie noch attraktiver wirken lässt. Oder vielleicht liegt das auch am Mondlicht. Hier draußen mitten im Nirgendwo, weit weg von jeglicher Quelle von Lichtverschmutzung, ist das Sternenlicht so hell, dass es jeden seiner Züge in bleiche, schwarzweiße Perfektion taucht.

  »Jetzt oder nie.«

  »Wo sind wir?«, frage ich, bevor er es sich anders überlegen kann.

  »Auf dem Lockwood-Anwesen.«

  »Ja, aber wo ist das?«

  »Etwa fünf Kilometer hinter dem Arsch der Welt.«

  »Danke. Das ist überaus hilfreich. «

  Er zuckt gleichgültig mit den Schultern und schiebt die Hände in die Taschen seiner perfekt geschnittenen grauen Anzughose. »Dieser Ort liegt etwa auf halbem Weg zwischen Lund und Vasgaard, wenn ich mich richtig erinnere.«

  »Warum sind wir hier?«

  »Ich gehe davon aus, dass du vorhin die Nachrichten gesehen hast.«

  »Das Feuer im Palast?«

  »Ja.« Trauer blitzt in seinen Augen auf, aber sie ist so schnell wieder verschwunden, dass ich mir sicher bin, dass ich sie mir nur eingebildet habe. »Wenn es eine Bedrohung für die Monarchie gibt, wird die ganze königliche Familie abgeriegelt. Das gilt auch für ihre engsten Verwandten, Freunde und Bekannten … Du kannst dir sicher vorstellen, wie das läuft.«

  Ich nicke.

  Er zieht die Augen zusammen und schaut mich an. »Da du mir nicht verraten hast, wer zum Teufel du bist, gehe ich davon aus, dass du eine Verbindung zu jemandem hast, der von Bedeutung ist. Jemand, der für deine Sicherheit sorgen wollte, nur für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass das Feuer …« Er fährt mit einer Hand durch sein Haar und spannt plötzlich den Kiefer an. »Mehr als nur eine Kerze war, die man versehentlich in Henrys Gemächern brennen ließ.«

  Die Selbstverständlichkeit, mit der er über den Kronprinzen spricht, fällt mir sofort auf.

  Henry.

  Sie stehen sich nahe.

  Sie sind Freunde. Vielleicht sogar miteinander verwandt.

  Plötzlich erinnere ich mich an seine Worte von vorhin.

  Es war eine lange Nacht. Eine Nacht, in der ich mich eigentlich hemmungslos betrinken wollte, um all den Mist zu vergessen, der heute passiert ist .

  Ich spüre, wie ich blass werde. Gott, ich bin so sehr mit meinem eigenen Dilemma beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe, dass er gerade womöglich ebenfalls eine schlimme Zeit durchmacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Verlust dieses Fremden sogar sehr viel größer als mein eigener.

  Für mich waren der König und die Königin nur Aushängeschilder.

  Für ihn …

  Waren sie seine Familie?

  »Es tut mir leid«, sage ich leise.

  Er weicht zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Wie bitte? «

  »Das Feuer … der König und die Königin … Kronprinz Henry …« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. »Der Verlust, den du erlitten hast, tut mir leid. Was du gerade durchmachen musst, ist wirklich schlimm.«

  Er schaut mir einen Moment lang in die Augen. Ich könnte ebenso gut auf zwei himmelblaue Schilde starren – er ist vollkommen undurchschaubar. Ich sollte den Blick vermutlich abwenden, aber das kann ich einfach nicht. Die Atmosphäre zwischen uns lädt sich wieder elektrisch auf, und seltsam knisternde Strömungen huschen flackernd zwischen ihm und mir hin und her. Als er die Stille endlich durchbricht, klingt seine Stimme rau.

  »Bist du fertig?«

  »Fertig ?«

  »Mit deinen Fragen.«

  »Nicht mal ansatzweise.«

  »So ein Pech.« Er wendet sich ruckartig ab. »Es wird Zeit, sich dem Erschießungskommando zu stellen.«

  Ich muss wohl einen entsetzten Laut von mir gegeben haben, denn sein Schmunzeln kehrt zurück .

  »Dem metaphorischen Erschießungskommando.« Er hält inne. »Andererseits, wenn Octavia deine Haare sieht …«

  »Wer ist Octavia?«, piepse ich, aber er geht bereits auf die Wachen zu, die an den Stufen, die zum Eingang führen, auf uns warten. »Wer bist du? Wer ist da drinnen? Warte! «

  »Tut mir leid, Schätzchen. Die Fragerunde ist für den heutigen Abend beendet.«

  »Aber du hast mir doch so gut wie nichts verraten!«

  »Stell beim nächsten Mal bessere Fragen.«

  Ich grummele vor mich hin. Ich habe keine andere Wahl, als ihm hinterherzulaufen und dabei meinen Minirock nach unten zu ziehen und mein Haar so gut wie möglich glatt zu streichen, während wir um einen üppig verzierten Brunnen biegen, der von kunstvollen Formschnittpflanzen umgeben ist. Mein Blutdruck steigt immer weiter, je näher wir der Tür kommen. Als wir die fünf Marmorstufen erklimmen, die zur Schwelle führen, flankieren uns die vier Wachen auf beiden Seiten. Ich bin mir sicher, dass ich jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden und zusammenbrechen werde.

  Kurz bevor wir eintreten, schaut er mich mit seinen blauen Augen an. »Bist du bereit hierfür?«

  »Nicht mal ansatzweise«, flüstere ich.

  »Das ist deine letzte Chance, dich aus dem Staub zu machen.«

  »Eins solltest du über mich wissen.« Ich straffe die Schultern, richte den Blick nach vorn und sehe zu, wie die Tür nach innen aufschwingt. »Ich laufe vor nichts und niemandem weg.«

  Mit diesem Schwur zwischen uns in der Luft betrete ich das Herrenhaus.

  Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie zerzauster und unzulänglicher gefühlt als in dem Moment, in dem ich den Blick durch die hoch aufragende Eingangshalle des Lockwood-Anwesens gleiten lasse. Zwischen der ausladenden Treppe, dem Kristallkronleuchter und der sorgfältig zusammengestellten Sammlung aus Antiquitäten wirke ich in etwa so fehl am Platz wie Maria, als sie in Meine Lieder – Meine Träume im Haus der von Trapps eintrifft. Als kleines Mädchen habe ich mir diesen alten Hollywoodfilm immer wieder angeschaut, denn damals glaubte ich noch an Märchen und Geschichten, die ein gutes Ende nehmen.

  Ein rundlicher Mann in einem Nadelstreifenanzug erwartet uns. Überrascht stelle ich fest, dass ich ihn vorhin im Fernsehen gesehen habe. Das ist der Pressesprecher des Palasts. Abseits des Bildschirms ist seine Miene genauso säuerlich – und möglicherweise wird sie sogar noch ein wenig säuerlicher, als er mich entdeckt. Er mustert mich von meinen herausgewachsenen lavendelfarbenen Strähnen bis zu meinen klobigen schwarzen Absatzschuhen und schaut dann wieder nach oben. Die ganze Prozedur dauert nur zwei Sekunden, aber ich weiß, dass er mich in dieser Zeit beurteilt und für unzureichend befunden hat.

  »Nun ja«, sagt er in einem überheblichen Tonfall, als wären wir für einen Termin unentschuldbar spät dran. Seine Hängebacken schwabbeln verdri
eßlich, als er den Blick auf meinen Begleiter richtet und auch bei ihm jeden Makel registriert, von dem Lippenstiftfleck auf seinem Kragen über sein zerzaustes Haar bis hin zu seinen blutunterlaufenen Augen. »Lord Thorne, Sie dürfen Ihre ausgiebige Freizeit so verbringen … wie immer Sie es wollen. Aber bitte verlassen Sie nicht das Anwesen.«

  »Überaus großmütig, Simms«, sagt mein Fremder – Lord Thorne? – gedehnt. »Aber ich denke, ich werde mir die Vorstellung ansehen. «

  »Wie Sie wünschen, Mylord.« Simms seufzt und richtet den Blick dann wieder auf mich. »Was Sie betrifft …«

  Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

  Er wirbelt zackig herum und geht in Richtung eines Flurs zu unserer Linken. »Folgen Sie mir bitte.«

  Ich schaue zur Seite und stelle fest, dass mich Lord Thorne – ich werde ihn niemals so ansprechen, egal, ob ich mich damit der königlichen Etikette widersetze – aufmerksam beobachtet.

  »Willst du dich immer noch nicht aus dem Staub machen?«

  »Nein«, lüge ich durch zusammengebissene Zähne.

  Er schmunzelt, als wüsste er, dass ich Schwachsinn rede, und deutet eine spöttische Verbeugung an. »Dann bitte nach dir.«

  Ich schlucke schwer, straffe die Schultern und marschiere hinter Simms her. Dabei gebe ich mir große Mühe, in meinen Absatzschuhen nicht zu wanken. Es wäre nicht auszudenken, wenn ich stolpern, gegen einen antiken Beistelltisch aus dem fünfzehnten Jahrhundert fallen und ihn zerbrechen würde. Ich mag zierlich sein, aber ich bin noch nie wirklich anmutig gewesen. Mom sagt immer, dass ich mich eher wie eine Naturgewalt durchs Leben bewege, so als wäre ich ein Tornado, der alles auf seinem Weg durcheinanderwirbelt.

  Das sagte sie immer.

  Hin und wieder benutze ich die Verben noch in der falschen Zeitform. Es ist fast zwei Jahre her, aber ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie nun zu meiner Vergangenheit und nicht mehr zu meiner Gegenwart gehört. Ich bezweifle, dass ich mich jemals damit abfinden werde.

  Wir gehen an mehreren geschlossenen Türen vorbei und halten auf das Ende des Flurs zu, wo ein bogenförmiger Durchgang in einen großen Salon führt. Ich presse die Lippen zusammen, um meinen Mund davon abzuhalten, vor lauter Staunen aufzuklappen .

  Alles ist in cremefarbenen Tönen gehalten: die Möbel, die Vorhänge, die Kranzprofile und der helle Parkettboden unter meinen Füßen. Geschmackvolle Bücherregale säumen die Wände, ein Flügel füllt eine Ecke aus und drei weiße Sofas sind kunstvoll um den Mittelpunkt des Zimmers arrangiert worden – einem unglaublichen Marmorkamin, dessen Sims dicker als mein Körper und zweimal so lang ist.

  Der einzige Farbtupfer ist das zu elegant aufgedrehten Locken frisierte rotbraune Haar einer glamourösen Frau mittleren Alters, die an dem prasselnden Kaminfeuer sitzt. Sie hat die Beine anmutig verschränkt, und der weiße Leinenstoff ihres Kleids passt perfekt zu dem Sofa unter ihr. Als ich in ihre hellblauen Augen schaue, bemühe ich mich, nicht zurückzuzucken, denn in ihrem Blick liegt eisige Ablehnung. Zum Glück schaut sie mich nicht lange an, sondern richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Mann neben mir.

  »Carter.«

  Es ist wirklich erstaunlich, wie viel Missfallen sie zum Ausdruck bringt, indem sie einfach nur seinen Namen ausspricht – ein Name, der, das muss ich zugeben, gut zu ihm passt. Lord Carter Thorne. Ich schaue zu ihm und stelle fest, dass sich sein ganzes Auftreten verändert hat. Seine Haltung ist anders: Seine Schultern sind steifer, und in seiner Miene liegt keinerlei Humor oder Lässigkeit mehr. Er könnte ebenso gut aus dem gleichen Marmor sein wie der Kamin, denn alles Menschliche scheint von ihm abgefallen zu sein.

  »Wo ist Chloe?«, fragt die Frau in demselben eisigen Tonfall.

  »Ich bin nicht ihr Babysitter, Octavia.«

  Die Frau lässt seine Bemerkung unkommentiert. Stattdessen greift sie mit einer fließenden, lautlosen Bewegung nach ihrer Teetasse, die vor ihr auf dem Couchtisch steht. Sie nimmt einen demonstrativen Schluck und schaut Carter dabei die ganze Zeit über den Rand hinweg an, als befänden sie sich in einer Art Anstarrwettbewerb. Ich bin mir nicht sicher, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, aber die Luft zwischen ihnen ist so frostig, dass es mich wundert, dass ich nicht meinen Atem sehen kann. Sogar Simms wirkt unangenehm berührt, während er pflichtbewusst an der gegenüberliegenden Wand steht und auf Anweisungen wartet wie ein gut abgerichteter Hund.

  Carter bricht den Blickkontakt zuerst ab und schaut auf seine Anzugschuhe hinunter. Ich stehe nah genug neben ihm, um das resignierte Ausatmen zu hören, das ihm zischend über die Lippen kommt. »Soweit ich weiß, wollte Chloe mit Ava zu einer Cluberöffnung in Lund. Ich bin mir sicher, dass sie sofort zum Krankenhaus gefahren sind, als sie die Nachricht von Henry gehört haben.«

  Die Frau stellt ihre Tasse und Untertasse ohne das leiseste Geräusch ab und hebt den Blick dann wieder zu Carter. »Und du hattest nicht das Gefühl, dass du sie begleiten solltest?«

  »Um dazusitzen und ihm beim Sterben zuzusehen? Nein. Ich denke, das machen schon genug Leute.«

  »Sei nicht so theatralisch.«

  »Besser als so gleichgültig wie du, aber das war ja vorauszusehen.« Carters Stimme gleicht einem angewiderten Knurren. »Gott, Octavia, du könntest wenigstens so tun, als würdest du um Henry trauern. Aber warum solltest du dir die Mühe machen? Du bist jetzt genau da, wo du immer sein wolltest. Ich gehe davon aus, dass du Purzelbäume durch die Schlossflure schlägst, sobald sich der Rauch verzogen hat.«

  »Und schon wieder bist du theatralisch.« Sie verzieht missbilligend die Lippen. »Jemand muss in dieser chaotischen Zeit vortreten, um die Führung zu übernehmen, bevor alles außer Kontrolle gerät. Wenn man jedoch bedenkt, dass du dein Leben damit verbringst, streitlustig von einer Party zur nächsten zu torkeln, kann ich wohl nicht erwarten, dass du verstehst, wovon ich rede.«

  »Kriegsgewinnertum?«, schlägt er verbittert vor.

  »Pflicht.« Ihre blauen Augen blitzen auf. »Ich werde die Rolle übernehmen, die mir aufgebürdet wurde, und tun, was ich tun muss, für meine Familie, meinen Ehemann und mein Land.«

  Eine deutliche Pause entsteht. Dann schlägt Carter die Hände zusammen und applaudiert langsam und höhnisch. Ich zucke bei jedem Schlag, der in dem stillen Zimmer widerhallt, zusammen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass es Simms in der Ecke ähnlich ergeht.

  »Wow.« Carter pfeift. »Das war eine hübsche kleine Rede. Sie klang beinahe so, als hättest du sie einstudiert . Als hättest du sie wochenlang einstudiert.«

  »Einstudiert?« Die Frau mit den rotbraunen Haaren senkt die Stimme. »Das ist absurd. Das, was heute passiert ist, war ein schrecklicher Unfall.«

  »Wenn es tatsächlich ein Unfall war, warum hat man uns dann hierhergebracht und uns unter Bewachung gestellt?« Er schüttelt den Kopf. »Wir wissen beide, dass mehr dahintersteckt. Ein Anschlag.«

  »Das wird sich noch herausstellen. Vielleicht kann uns Chloe mehr Informationen liefern, wenn sie eintrifft.« Sie mustert ihn von oben bis unten. »Wenigstens ist einer von euch für etwas zu gebrauchen.«

  »Oh, Mutter, hör auf – du wirst mich noch verhätscheln.«

  Mutter?

  Sie starrt Carter weiterhin kalt an. »Du erwartest, dass ich dich lobe? Du siehst aus, als wärst du gerade aus einem Bordell gestolpert.«

  »Vielleicht bin ich das ja«, ätzt er mit angespanntem Kiefer. » Aber das sollte dich nicht überraschen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, nicht wahr, Octavia?«

  Ich bin mir nicht ganz sicher, was genau er damit meint, aber sie begreift es offensichtlich. Die Worte sind ein nicht zu leugnender Schlag. Sie wird blass und verkrampft die manikürten Finger so fest, dass ich sogar auf die Entfernung sehen kann, wie sich ihre Knöchel weiß färben. So, wie sie ihren Sohn anschaut, ist klar, dass sie am liebsten quer durch das Zimmer gehen und ihm eine Ohrfeige verpassen würde. Stattdessen legt sie auf unheimliche Weise eiserne Haltung an den Tag und lächelt einfach nur gelassen.

  Wer zum Teufel sind diese Leute?

  Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl, trete von einem Fuß auf den anderen und wünschte, dass ich mi
ch buchstäblich an jeden anderen Ort auf der Welt beamen könnte, um der erstickenden Bosheit in diesem Zimmer zu entkommen. Sofort wird mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe – die kleinen Bewegungen ziehen Octavias durchdringende Aufmerksamkeit auf mich. Sie mustert mich von Kopf bis Fuß, und ihr Hochmut ist förmlich greifbar, als sie meine knappen Klamotten, meine strähnigen Haare und mein verschmiertes Augen-Make-up betrachtet.

  »Und ich dachte schon, dass das mit dem Bordell ein Scherz gewesen wäre.« Sie schüttelt den Kopf. »Hast du es wirklich für eine gute Idee gehalten, eine der Begleitdamen mit herzubringen?«

  Moment, was?

  »Hat diese Familie für eine Nacht nicht genug ertragen müssen?«, zischt Octavia. »Warum musst du immer darauf beharren, eine Szene zu machen?«

  In Carters Kehle braut sich ein tiefer, wütender Laut zusammen. »Octavia … «

  »Ich bin diese Aktionen, mit denen du um Aufmerksamkeit heischst, wirklich leid! Dein Stiefvater wird …«

  »Verzeihung«, falle ich ihr ins Wort und trete vor, bevor sie weiter Gift verspritzen kann. Sie wirkt vollkommen verblüfft, dass ich – eine gewöhnliche Bordellangestellte! – es gewagt habe, ihre Schmährede zu unterbrechen. »Haben Sie mich gerade als Prostituierte bezeichnet?«

  Sie schnieft, als würde sie etwas Vergammeltes riechen, und lässt sich nicht zu einer Antwort herab.

  »Perfekt!«, schnauze ich und gestikuliere wild, um meinen angestauten Emotionen Luft zu machen. »Einfach verflucht perfekt. Das setzt dem Ganzen wirklich die gottverdammte Krone auf!«

  Simms und Octavia schnappen angesichts meiner unverblümten Ausdrucksweise gleichzeitig nach Luft, aber ich bin zu sehr in Rage, um mich zurückzuhalten. Und ich werde mich auch ganz sicher nicht entschuldigen. »Lassen Sie mich mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Sie haben mir bewaffnete Wachen auf den Hals gehetzt, die meinen besten Freund bewusstlos geschlagen, mich mit Gewalt auf den Rücksitz eines SUV verfrachtet und mitten in der Nacht aufs Land rausgefahren haben. Und für all das habe ich nicht die geringste Erklärung erhalten.« Meine Stimme schwillt mit jedem Wort an. »Und jetzt besitzen Sie tatsächlich die Unverfrorenheit, dazusitzen und mich als Hure zu bezeichnen?«